Münchhausen bei den Ziegen

Münchhausen bei den Ziegen

Ausschnitt aus dem „Münchhausen“, Kapitel 9: „Der Freiherr von Münchhausen beginnt einen Heroismus im Erzählen zu entfalten“.

„Die wohltätigen und rechtschaffenen Mütter hatten nämlich einen Verein ›zur Linderung des Elendes leidender Naturwesen‹ gestiftet. Dieser Verein war aus den Trümmern eines früheren, untergegangenen entstanden, welcher auf die Verfeinerung ihrer Pelze abgezielt hatte. Ein reisender Waldesel war nämlich einstmals über den Helikon gekommen, hatte aus der Hippokrene gesoffen und darauf von dem wundervollen Gespinste der Tübetziege phantasiert, aus welchem in Kaschmir die herrlichen und kostbaren Schals gewebt werden. Der phantasierende Esel hatte weder Tübetziegen noch Kaschmirschals selbst gesehen, sondern im Walde einen armenischen Kaufmann davon reden hören, der zwar mit den Schals bekannt war, die Ziegen aber auch nie in Augenschein genommen hatte, sondern nur von seinem verstorbenen Bruder gehört haben wollte, es gebe dergleichen. Die Phantasie des Esels entzündete aber die Phantasie der Mütter und befruchtete ihren Geist mit dem Ideale einer tübetischen Hochgebirgsziege. Dieses ferne hohe Bild brachte in ihnen den Trieb der Nacheiferung hervor, ihre Pelze dünkten ihnen seit dem Tage roh und gemein, sie verbanden sich, durch ein Leben im höheren Sinne des Worts ihre Wolle zu verfeinern und es womöglich bis zu Kaschmirwolle zu bringen, denn der Pelz ist einer Ziege das, was schönen Seelen ihr Gemüt ist.

Das Leben im höheren Sinne des Worts konnte aber nur dadurch in das Werk gerichtet werden, daß sie alle Gemeinschaft mit ihren Gatten abbrachen und die Milch bei sich behielten. Diese Schritte bedrohten nun die ganze Herde mit dem Untergange, und als die Seufzer der Gatten und das Wimmern der Zicklein ihnen die Gefahr einleuchtend gemacht hatten, so mußten sich die hochherzigen Ziegen entschließen, dem schönen Unternehmen zu entsagen; schmerzlich ergriffen, denn wie es ihnen vorkam, war während der wenigen Tage, wo Gatten und Kinder darbten, ihr Pelz schon merklich feiner geworden.

Aus diesem Wolleverbesserungsvereine war der ›Verein zur Linderung des Elendes leidender Naturwesen‹ hervorgegangen, weil das höhere Selbst der helikonischen Ziegen Befriedigung wollte und für die Einbuße Ersatz heischte. Der neue Verein bekümmerte sich um jedes Unglück und half allen Insekten, Vögeln und kleinen Säugetieren, die in Not staken. Er hielt wöchentlich seine regelmäßigen Sitzungen; ich habe mehreren derselben beigewohnt, da man mich als Böcklein von guten Anlagen für würdig hielt, so edle und gemeinnützige Tathandlungen kennenzulernen. Die Ziegen pflegten an einer beschatteten Stelle des Berges im Kreise umherzuliegen und wiederzukäuen; die verständige tugendhafte Sisi aber, welche auf einem erhöhten Steine in der Mitte des Kreises ruhte, führte in diesen Konferenzen das Präsidium. Während des Wiederkäuens wurden denn nun Notfälle der verschiedensten Art in barmherzige Erwägung gezogen, als z. B. wie einer Hummel zu helfen sei, welche die Ziege Riri hatte in das Wasser fallen sehen? ob man nicht einer erlahmten und erstummten Grille eine Art Hackbrettlein aus Blättchen und Dörnchen zurichten lassen könne, um ihr die Ausübung ihrer Kunst für die Zukunft wenigstens einigermaßen möglich zu machen? oder in welcher Art einer in ihrem Loche darbenden Maus Futter für sich und ihre Jungen geschafft werden möge, von der die Ziegen wußten, daß sie ohne Verschulden in solche Nahrungslosigkeit geraten war, und was dergleichen wohltätige Maßnahmen mehr waren, welche den helikonischen Ziegen und ihrem Vereine einen fast göttlichen Namen bei allem notleidenden Geschmeiße zuwege gebracht hatten. Ich sage: Bei dem Geschmeiße, denn was die edleren Geschöpfe betrifft, so wollten diese von dem Vereine und seinen Taten nichts wissen. Die Steindrossel hörte auf zu singen, wenn die Ziegen in der Nähe ihres Busches ratzuschlagen begannen, eine weiße Hinde, welche zuweilen besuchshalber auf den Berg kam, wies, als die Ziegen ihr den Antrag machten, in den Wohltätigkeitsverein zu treten, statt aller Antwort nur den stolzen Rücken, und die Lorbeerbäume, unter welchen die Sitzungen vor sich gingen, habe ich oft die Kronen hochmütig schütteln sehen, wenn die Reden der Ziegen im tönendsten Schwunge und ergiebigsten Flusse waren. Ja, einer jener geweihten Bäume mußte die Nähe der barmherzigen Ziegen selbst körperlich nicht vertragen können. Er bekam ein krankes Ansehen und ging endlich ganz aus.

Auch erreichten die Mütter nicht in allen Fällen ihre tugendhaften Zwecke. Es war streng verboten, daß von irgendeiner Ziege privatim, ohne Aufsehen, aus dem Stegreife, wie sie sie fand, Not gelindert werden durfte; nein, alle Wohltätigkeit sollte seit der Stiftung des Vereins im Geschäftswege verwaltet werden, und die Einzelziege war streng angewiesen, dem leidenden Wesen, welches sie traf, vorüberzugehen und über den Fund nur dem Vereine zu berichten. Auf diese Weise wollten die helikonischen Mütter die gemeine, instinktartige Milde ausrotten und an deren Statt die höhere, selbstbewußte, die administrierende Milde pflanzen. Da es nun aber immer mit einiger Weitläufigkeit verknüpft war, eine Sitzung zustande zu bringen, die Sitzungen selbst jedoch das Weitläufigste bei der ganzen Sache wurden, indem die Ziegen meckernd und wiedermeckernd gleichsam außer ihrem Futter auch die Barmherzigkeit wiederkäuten, so kam oft alle Hülfe zu spät. Die Hummel, welcher ein auf der Stelle zugeworfenes Blatt das Leben gerettet hätte, war während der Reden über die Pflicht, sie zu retten, untergegangen, und die Maus, der die vorübergehende Einzelziege ein paar Körner hätte zuscharren können, bis es zum Gesamtwirken für sie kam, Hungers gestorben.

Mitunter war etwas unternommen worden, was gegen die Natur anging. So konnte fast keine der lahmen Grillen mit den Kunsthackbrettchen fertig werden. Am schlimmsten waren, wie ich schon angedeutet habe, die langen und weitläuftigen Sitzungen des helikonischen Ziegenvereins für uns Zicklein und Böcklein. Wenn wir während derselben ohne Weg und Steg und oft ohne Futter umherliefen, wenn Gefahren und Raubtiere uns Außerachtgelassenen drohten, da konnten wir armen Schluckerchen nicht selten unsere bitteren Tränen darüber vergießen, daß die Mütter an ertrinkende Hummeln, lahme Grillen, und hungernde Mäuse dachten und uns vergaßen. Indessen waren solche Tränen und jene Mißglückungen im ganzen unwichtig. Die Helikonierinnen lernten sich durch den Verein in ihrer Vortrefflichkeit immer mehr fühlen und an ihrer eigenen Tugend begeistern, und darauf kam es doch hauptsächlich vor allem an.

Ich habe lange nicht gewußt, auf was Art diese Stimmung, welche die eigene Familie um Geschmeiß hin und wieder vernachlässigen lehrte, und eine schlichte und unscheinbare Barmherzigkeit zu einem glänzenden Geschäfte aufzublasen antrieb, bei den Helikonierinnen entstanden war. Endlich konnte ich mir das Rätsel erklären. Die helikonische Herde soff nämlich, wie wir wissen, aus der Hippokrene. Diese Quelle wirkt nun bei allen, welche sie trinken, die gewaltigsten Dinge, jedoch nur bei den durch das Schicksal dazu Vorbestimmten jenen reizenden Wahnsinn, den wir kennen, bei vielen dagegen versetzt sich das Wasser und schafft entweder die abscheulichsten Würfelreime, wie bei mir der Fall war, sooft ich trank, oder einen sozusagen erhitzten und geschwollenen Zustand im Handeln und Empfinden, den man die blühende Prosa des Lebens nennen könnte.

Die helikonischen Ziegen gehörten nicht in die Reihe der zum reizenden Wahnsinn Vorbestimmten. Bei ihnen wirkte die Quelle den Drang zu unnötigen Tugenden und überflüssigen Wohltätigkeiten. Ihr Zustand war blühende Prosa. Dieser Zustand rührte von versetzter Hippokrene her.

Wie oft mußte ich, als ich nachmals mehr unter Menschen kam, und ihre geschmacklosen Herrlichkeiten, ihre Aufspannungen für und um das Erbärmliche kennenlernte, still für mich ausrufen: ›Versetzte Hippokrene!‹ – Wo diese mit der blühenden Prosa in ihrem Gefolge auftritt, da stirbt das melodische Getön der Steindrossel, da weiset die stolze weiße Hinde vornehm den Rücken, da schüttelt der Lorbeer zornig die Krone, oder geht aus.

Auch die Gatten der Ziegen soffen für gewöhnlich aus der Hippokrene und wollten hinter den Gattinnen nicht zurückbleiben. Sie gehörten ebenfalls nicht in die Reihe der zum reizenden Wahnsinn Vorbestimmten, was mir gewiß jeder, der einmal einen solchen Gatten gesehen hat, auf mein Wort glaubt. Da nun die Gattinnen ihnen schon das Elend des Geschmeißes weggenommen hatten, so waren sie auf dessen Laster beschränkt und stifteten unter sich einen Verein ›zur Rettung sittlich verwahrloseter Naturwesen‹. Der Zweck desselben war, durch moralische Einwirkung, durch tugendhafte Anrede und herzliche Aufmunterung zum Guten alle die Tierlein, welche ihrer Natur nach stechen, beißen, kratzen, stehlen, oder sich von schmutzigen Dingen nähren, zu einem unschädlicheren und reineren Leben anzuführen. Nach der Absicht der Stifter sollte, wenn der Verein wirklich durchgriffe, die Mücke ihrem Stachel und der Floh seinem Blutdurst entsagen lernen, die Elster auf den Diebstahl verzichten, Würmer und Maden aber von Unrat und Aas sich entwöhnen.

Da ich mich allein bei den Ziegen aufhielt, so kann ich nicht sagen, wie weit der Besserungsverein mit seiner Tätigkeit gediehen war, als ich auf den Helikon kam. Ich weiß nur, daß allerhand Geziefer auch auf diesem heiligen Berge stach, biß, kratzte, stahl und Unaussprechbares fraß, weiß aber nicht, ob es gebessertes oder ungebessertes war. Einer einzigen Versittlichungsgeschichte Augen- und Ohrenzeuge bin ich geworden, von ihr will ich berichten, muß ich sogar berichten, da sich eine Katastrophe mit ihr verband, welche zu weiteren Schicksalen Münchhausens des Kindes, damals Böckchens, führte.

Die vereinigten Böcke… oder vielmehr die sittlichen Gatten der wohltätigen Ziegen waren an dem Tage, der meiner Auffindung folgte, an den Ort gekommen, wo der großmütige Engländer sein Pferd hatte grasen lassen und der tote Lämmergeier lag. Wo das Pferd gestanden, fanden sie einen Käfer mit schwarz-glänzenden Flügeldecken, einen der Art, welche bei Aristophanes die Knechte des Trygäos dem Herrn für den Ritt zu Zeus auffüttern, und die Deutschen Mistkäfer nennen. An dem Halse des Geiers aber bemerkten sie die stahlblaue Fliege, Schmeißfliege geheißen. – Ich will, Bruder Schnuck, ungeachtet deine göttliche Tochter nicht zugegen ist, dennoch den Käfer aus Rücksicht auf deine Delikatesse nur das Roß des Trygäos und die Fliege die blaue Schwärmerin nennen«, sagte Münchhausen, vom Manuskripte aufsehend.

»Erlaube« – rief der alte Baron fast wütend.

»Erlaube mir«, sagte Münchhausen, »dir die Geschichte von dem Käfer und der Fliege vorzutragen. –

›Dreht sich einem nicht das reine Herz im Leibe um‹, rief einer der Gatten, ›zwei Mitwesen in solcher Niedertracht zu sehen? O Brüder, laßt uns hier helfend einschreiten, laßt uns diesen Gefallenen die rettende Klaue reichen, entwöhnen wir den Käfer von seinen üblen Neigungen, die Fliege von der Leidenschaft, selbst die ungeborene Zukunft ihres Stammes einem verdorbenen Elemente einzupflanzen, machen wir Käfer und Fliege zu anständigen Leuten, die in der guten Gesellschaft fortkommen können.‹

Allgemeiner Beifall folgte dieser Rede. Einstimmig beschloß man, das Roß des Trygäos und die blaue Schwärmerin sollten sittlich und anständig werden, sie möchten wollen oder nicht. Vorsichtig scharrte der Redner, der Ziegengatte Solon (sie hatten sich lauter Namen von weisen und erhabenen Männern des Altertums beigelegt;) den Käfer von seinem Mahle mit der Klaue hinweg und trieb ihn in eine Felsritze, die sofort durch einen vorgewälzten Kiesel zum Besserungsgemache erschaffen wurde. Diese Unternehmung hatte wenig Schwierigkeiten gehabt, denn ehe ein Käfer zum Fliegen gelangt, dauert es einige Zeit mit Bauchdehnen und Halsrecken. Schlauer mußte man mit der Fliege zu Werke gehen, der wohlbeschwingten Schwärmerin. Indessen gelang es dem jungen Plato, einem Ziegengatten von der unerreichbarsten Hoheit der Gedanken, die zu Bessernde zu beschleichen, sie mit seinen Lippen zu erschnappen und zwischen denselben nach dem Astloche eines Feigenbaumes zu tragen, worin sie durch einen vorgestopften Pflock verspündet wurde. Man teilte das freudige Ereignis bei der nächsten Zusammenkunft den Gattinnen mit, welche nicht verfehlten, an den Hoffnungen des Vereins den lebendigsten Anteil zu nehmen. Auf diese Weise erhielt ich von der Sache Kunde. Wir Zicklein und Böcklein mußten nun den Ort, wo das Pferd des großmütigen Engländers gestanden, rein scharren, die erwachsene Herde stürzte aber den Leichnam des toten Geiers in einen tiefen Abgrund, um von den beiden eingesperrten Zöglingen der Sittlichkeit alle Anreizungen zum Laster zu entfernen.

In den folgenden Tagen begannen nun Solon und Plato, unterstützt jezuweilen von den übrigen Mitgliedern des Vereins, ihre Reden und Ermahnungen an das Trygäosroß und die blaue Schwärmerin. Solon lag vor der Felsritze und hielt seine Schnauze an ein federspulenkleines Löchlein, welches der Kiesel unbedeckt ließ; Plato stellte sich an dem Feigenbaume auf die Hinterfüße, hielt sich mit den Vorderfüßen am Stamme fest und legte das Honigmaul gegen das Astloch, um sich verständlich zu machen. In dieser Stellung oder Lage hielten die beiden Böcke ihre Besserungsreden, wenn sie nicht fraßen, der eine die Feigen des Baumes, der andere das junge Laubgesproß, welches an der Felsritze gerade in der wucherndsten und saftigsten Fülle wuchs.

›Ist es denn nicht besser, sich an reiner und reinlicher Nahrung zu sättigen?‹ sprach Solon zum Käfer, wenn er von dem Genusse des Laubes ausruhte. – ›Fühlst du denn nicht, du armer Gesunkener, daß uns alle, Ziegen, Käfer und Fliegen, Zeus der Vater in die Furchen der brütenden Mutter aussäte, die Speise aus der Hand der Götter, nicht aber sie aus der Pforte, die da stets nur ausläßt und nimmer ein, zu empfangen? Schreckliche, unbegreifliche Verirrung, das, was Trift und Gefilde heilsam in das Reich der blonden Demeter emporschickt, zu verachten, und erst dann danach zu streben, wenn es, in den Hades gestoßen, dem gestaltenlosen Schattengebiete der traurigen Persephoneia angehört! Liebst du des Hafers goldenes Korn, warum frissest du nicht Hafer? Gelüstet dich nach dem Sproß des Grases, weshalb beißest du nicht in Gras? Was reizt, was verführt dich, das alles erst umgestimmt, entmischt, abgenützt zu mögen? Höre dieses freudige Knirschen und Rauschen vor deinem Kerker, vernimm, wie ich in dem saftigen, fetten Portulak, in der wilden bittern Kresse, in dem erfrischenden Sauerklee schmause. Könntest du denn nicht, wenn du frei wärest, neben mir brüderlich sitzen und dieser von der Oreas uns verliehenen Blätter dich erfreuen, als einige Schritte weiter zurück, ein Helot und Barbar, zu harren, ob dir ein von der Harpye besudeltes Mahl werde? Oder sagst du: ›Ich bin Käfer, du bist ein Ziegengatte?‹ Nun so blicke auf deinesgleichen, sieh, wie der kleine rote zirpende Schelm das süßduftende Blatt der Lilie nagt, wie der Runde mit kupferbraunen Flügeln und grünem Schilde im Schoße der Rose schwelgt! Denen folge, denen schließe dich an, bei ihnen ist deine Stelle! Friß Lilien, wenn du nicht Hafer, friß Rosen, wenn du nicht Portulak, Kresse und Sauerklee fressen willst!‹

Nach diesen Reden fühlte sich der edle Solon immer mit neuem Appetite versehen und war zu erhöhter Tätigkeit an den Bergkräutern aufgelegt. Plato, wenn er vom Feigenfraß rastete, hielt Ermahnungen ungefähr des nämlichen Inhalts an seine Schülerin. Auch er riet der Fliege auf das Eindringlichste, verdorbenes Fleisch zu lassen, in Zukunft Feigen zu fressen und auf Feigen ihre Eier zu legen. Er suchte besonders auf das Muttergefühl zu wirken und in glänzenden Bildern ihr vorzustellen, welch ein begabteres Geschlecht ihre Brut werden würde, wenn sie statt in Dust und Dunst, da droben auf sonnebeschienenem, lüftegewiegtem Zweige auskäme. Auch er verzehrte nach seinen Reden immer wieder Feigen, solange dergleichen noch am Baume hingen, dann nagte er die Zweige ab, so daß der Baum ein ziemlich verwüstetes Ansehen zu bekommen anfing.

Das Roß des Trygäos und die blaue Schwärmerin lebten bei diesen Ermahnungen in ihren Besserungslöchern ein trauriges Leben. Sie waren beide schlichte, rohe Naturwesen ohne alle Theorie, praktischen Trieben ergeben. Anfangs rasten sie wie wahnwitzig brummend und schnurrend in den Kerkern umher, da ihnen dieses aber nichts half, so wurden sie still und hörten den Reden ihrer Verbesserer zu. Von denen verstanden sie nun aber nicht das mindeste, als, daß der Käfer Lilien und Rosen fressen, die Fliege sich zu Feigen wenden solle – Zumutungen, die Roß und Schwärmerin außer sich setzten, weil sie ihnen das Beleidigendste dünkten, was ihnen nur gesagt werden konnte. ›Seelenverkäufer! Seelenverkäufer!‹ brummte der Käfer. – ›Warum soll denn unsereins nicht fressen, was unsereinem schmeckt?‹ – ›Ich such‘, such‘, such‘ Geruch!‹ summte die Fliege. Am meisten ärgerte es die beiden Kandidaten der Sittlichkeit, daß sie ihre Besserer draußen behaglich in Laub und Feigen knarpen hörten, und daß denen die tugendhaften ermahnenden Reden gleichsam nur dienten, sich der Verdauung halber nach dem Essen eine Bewegung zu machen. Indessen nahmen die Dinge für beide eine sehr ernste Gestalt an, denn sie bekamen natürlich nicht das allergeringste zu essen und fielen daher während ihrer Bearbeitung zu einem reineren Leben jämmerlich ab. Das Trygäosroß wurde so matt, daß es kaum noch auf den Füßen stehen konnte; die blaue Schwärmerin ließ kraftlos die Flügel hängen.

In dieser traurigen Verfassung überkam sie der den Tieren eingepflanzte schlaue Trieb der Selbsterhaltung. Sie setzten sich vor zu heucheln, und gaben klägliche und melancholische Töne von sich. ›Höre!‹ rief Solon dem Plato zu (denn Felsritze und Feigenbaum waren einander nahe;) ›das Laster schlägt in sich, die ersten Kennzeichen der Reue sind zu spüren.‹ – ›Meine arme Gefallene ächzt auch schon über ihr Unheil‹, versetzte Plato. Nach einiger Zeit prüften die beiden ehrwürdigen Ziegengatten den Sinn der Bekehrten, indem Plato ein Stückchen Feige, welches noch am Baume gehangen hatte, vorsichtig in das Astloch schob, Solon aber ein Lilien- und Rosenblättchen unter den Kiesel in die Felsritze zu bringen wußte.

Roß und Schwärmerin erbebten vor Grimm bei dieser Darlegung abscheulicher Anträge, wie sie ihnen vorkommen mußten. Die Schwärmerin wich entsetzt vor dem Feigenstücklein in die letzte Ecke des Astloches zurück, das Roß stieß die Blätter, deren Geruch ihm den Atem raubte und die Luft seines Wohnortes ihm zu verpesten schien, mit den kurzen, kräftigen Beinen von sich ab. – ›Niederträchtiger Gestank!‹ brummte es. – ›Sollte man’s glauben, daß es Narren gibt, die an dem gräulichen Zeuge Behagen finden? Ich ersticke! O meine Ambrosia!‹ – ›Feigen! Feigen! Feigen! Kinderpapp! Kinderpapp!‹ tosete die Schwärmerin.

Aber ihre Lage war zum Äußersten gediehen. Die Besserer draußen, das begriffen die Opfer der Sittlichkeit drinnen, konnten es bei guter Nahrung mit ansehen, wenn sich das Geschäft auch noch so sehr in die Länge zog. Hunger tut weh, Verstellung tat not, die draußen zu täuschen. Der Käfer überwand sich und fraß unter Verwünschungen und Zuckungen etwas Lilien und Rosen, welches er aber alsobald wieder von sich gab, so übel bekam ihm der höhere und reinere Lebensgenuß! Die Fliege bezwang ihr schauderndes Gemüt und verrichtete über der Feige einigermaßen und gleichsam zur Probe das, was von ihr im Namen der Tugend gefordert wurde. Plato und Solon hatten gelauscht und an dem Geräusche, welches drinnen entstanden, abgenommen, daß etwas Entscheidendes vorgefallen sein müsse. Öffnend jetzt die beiden Verliese, sahen sie Lilien und Rosen angenagt, das Feigenstücklein beschmeißt, Roß und Schwärmerin aber halbohnmächtig auf dem Rücken liegen. Solon und Plato umarmten einander mit den Vorderbeinen und riefen: ›Triumph! die Tugend hat gesiegt! Das Laster ist aus dem Busen dieser sittlich Verwahrloseten gewichen, sie werden nie wieder in ihre schimpflichen Angewöhnungen zurückfallen!‹

Der Jubel drang zu den übrigen Ziegengatten, welche ungeachtet ihrer Ehrwürdigkeit den frohen Fall mit einem herrlichen Reigentanze in den kühnsten Sprüngen feierten. Auch die Mütter und uns Zicklein und Böcklein zog das Getöse herbei. Die Mütter wurden mit wenigen freudigmeckernden Worten von dem Gelingen der Versittlichung in Kenntnis gesetzt, sahen Roß und Schwärmerin die Füße von sich strecken und vergossen Tränen der Rührung. Wie die Frauen denn immer mit blitzschneller Ahnung das Höchste, Richtigste treffen, so ging auch in den helikonischen Ziegen damals die Blüte des versittlichenden Wirkens auf. – ›Laßt uns aus diesen beiden der Tugend gewonnenen Wesen ein Paar machen!‹ riefen die Ziegen begeistert. ›Verheiraten wir sie miteinander, und als Aussteuer geben wir ihnen so viele Lilien, Rosen und Feigen, als sie am Helikon finden können!‹

Ein unglaublicher Sturm des Entzückens folgte diesem Vorschlage. Zwar wollte der ehrwürdige Moschus den Zweifel erheben, ob selbiges Ehebündnis wohl fruchtbar ausfallen möchte, und der kritische Bion erst die Neigungen von Braut und Bräutigam prüfen; aber die erwähnten Bedenken fanden keinen Anklang, vielmehr rief der Chorus der übrigen einhellig: ›Wo die Tugend zusammenführt, kommt es auf Neigung und Fruchtbarkeit nicht an!‹

Man wollte sogleich zu diesen Hymenäen im Namen der Sittlichkeit schreiten. Plato und Solon nahmen das Trygäosroß und die blaue Schwärmerin auf ihren Rücken. Sie schritten voran, die ehrwürdigen Gatten folgten ihnen paarweise, denen folgten die rechtschaffenen und wohltätigen Mütter, hinter den Müttern sprangen wir Zicklein und Böcklein, und so setzte sich der Zug nach dem Platze an der Hippokrene in Bewegung, wo die Hochzeit gefeiert werden sollte.

Dort angekommen, nahm die alte verständige Sisi das Roß zwischen ihre Lippen, die gute Quiqui aber tat desgleichen mit der Schwärmerin. Sie trugen demnächst das Brautpaar zu einem hohen Steine, stellten die beiden jungen Leute, welche von der freien Luft erfrischt, wieder stehen konnten und überhaupt mit jedem Augenblicke munterer zu werden schienen, auf den Stein nebeneinander, und darauf schlossen wir alle, jung und alt einen weiten Kreis um das Paar. Das in der Eile entworfene Programm der Festlichkeiten ordnete diese Reihenfolge derselben an: Strophe; Reden von Solon und Plato; Gegenstrophe; Zeremonie, Schlußgesang, gymnisches Spiel, Reigentanz, Festmahl.

Eine der kleinen lahmen Grillen, die einzige, welche mit dem Kunsthackebrettlein aus Blättchen und Dörnchen hatte fertig werden können, war zur Festsängerin ernannt worden. Als daher der Kreis sich gebildet hatte, schritt oder hüpfelte vielmehr diese Dichterin des Wohltätigkeitsvereins zur heiligen Quelle, netzte darin ihre Freßzangen ein weniges, verdrehte darauf die goldgelben Äugelein im Kopfe, erreichte mit einem lahmen Sprunge das Gezweig einer Tamariske, nach vergeblichen Bemühungen, auf einen der Lorbeerbäume, den niedrigsten unter allen, zu gelangen, stimmte das Hackebrettlein, putzte die Freßzangen an demselben ab, und sang nun, das Kunstinstrumentlein schlagend, begeistert folgende:

Strophe

›Der Käfer ist ein Schweinichen,
Brumm! Brumm!
Die Fliege hat sechs Beinichen,
Summ! Summ!
Die Fliege hat den Käfer lieb,
Der Käfer ist ein Herzensdieb;
Summ! Summ! Brumm! Brumm! Brumm! Brumm!‹

›Herrliche Poesie! Nahrung für Gemüt und Gefühl!‹ meckerten die Ziegen. – ›Reines Gefühl, mit keinem Gedanken belastet! Echt lyrisch!‹ murmelten die Böcke. – Solon und Plato traten in den Kreis vor das Brautpaar und redeten nacheinander. Sie hielten ihm in eindringlichen Worten die Schändlichkeit seines früheren Lebenswandels vor, dann führten sie aus, daß die Göttin der Tugend eine gute alte Mama sei, immer zum Verzeihen bereit, dann kamen sie auf Lilien und Rosen, Feigen, Felsritzen und Astlöcher. Im ersten Teile machten sie das Brautpaar herunter, im zweiten erhoben sie es, in der Nutzanwendung wußten sie selbst nicht mehr, was sie wollten – ihre Sermone hätten gleich als Muster von Kasualreden abgedruckt werden können.

Ich glaubte zu bemerken, daß das Brautpaar auf die Reden nicht achtete, sondern nur Leib und Flügel einzuüben scheine, teilte diese Beobachtung meinen Nachbarn mit, die jedoch, ganz in die Würde des Festes versenkt, meiner Worte nicht achteten. Nach den Reden sang die Grille folgende

Gegenstrophe:

›Und ist er denn ein Schweinichen,
Brumm! Brumm!
Und hat sie denn sechs Beinichen,
Summ! Summ!
So reicht einander jetzt die Füß‘
Und sei der Ehestand Euch süß;
Brumm! Brumm! Summ! Summ! Summ! Summ!‹

Indem es aber nun zur Zeremonie kommen sollte, und die Ziegen Sisi und Quiqui das Paar ersuchten einander die Füße zu geben, nahm die Feierlichkeit eine plötzliche unerwartete und unglückliche Wendung. Denn zur Rechten wurde in der Entfernung der Hufschlag eines Pferdes hörbar, und zur Linken kroch unten durch einen Bergspalt ein Fuchs, oder ein Wolf oder ein anderes Raubtier. Ich weiß nicht, was dem Pferde begegnen mochte, das aber sah ich, weil ich auf der äußersten Linie des Kreises stand, daß das Raubtier ein Stück Fleisch im Rachen trug. Alsobald drang in die beiden jungen Leute auf dem Steine eine konvulsivische Bewegung, ihren scharfen Sinnen brachten die Lüfte von weitem verführerische Botschaft zu, Roß und Schwärmerin sammelten ihre letzten von der Sittlichkeit verschont gebliebenen Kräfte, spreiteten die Flügel aus, und mit dem Gebrumm: ›Mist! Mist! Mist!‹ und mit dem Gesumm: ›Luder! Luder! Luder!‹ flog der Bräutigam rechts, die Braut links davon, ungerührt von Besserungsversuchen, Reden, Rührungen, Strophen und Gegenstrophen das alte Lasterleben von vorn zu beginnen.

Die entsetzte Überraschung der Freier, als Odysseus plötzlich aus Bettlerlumpen mit sieghafter Hoheit hervorleuchtete und die tötenden Pfeile vor sich hingoß, kann nicht größer gewesen sein, als der Schreck der Mütter und ihrer Gatten bei diesem Anblicke, welcher ebenfalls sozusagen die Hoheit der Natur aus Lumpen hervorscheinen machte. Anfangs standen sie da, stumm, starr, regungslos, gleichsam ein großes Viehstück aus Stein, dann aber ergriff sie der haltungsloseste Taumel, und sie rannten nach allen Richtungen ebenfalls auseinander, entweder, weil sie die sittlich Verwahrloseten wieder einfangen wollten, oder auch nur überschattet von dem Dämon, welcher sich ungeheurer Augenblicke zu bemächtigen pflegt. Die Zicklein und Böcklein folgten, so daß die den Gipfel hinan und hinunter rennenden, springenden, stolpernden, stürzenden Tiere demselben ein Ansehen gaben, wodurch er mehr der Kuppe eines thessalischen Zauberberges, als der heiteren musischen Höhe glich.

Was mich betrifft, so war ich an der Quelle zurückgeblieben. Warum sollte ich hinter Käfer und Fliege herlaufen? Mein eigenes Schicksal machte mir bange. Ich fürchtete die Rückkehr der Herde.“

Immermann, Karl: Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken. Berlin: AB – DIE ANDERE BIBLIOTHEK GmbH & Co. KG 2021 (Band 435), S. 315 – 327.

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